Tagesspiegel: Ein Streiktag mit Wirkung!

07.04.2022
Tagesspiegel Renate Gensch, dju-Landesvorsitzende, spricht zu den Streikenden.

„Schluss mit Nullnummern!“ und „Wir wollen feste Zusagen für Gehaltserhöhungen!“ – mit einem ganztägigen Warnstreik protestierten am Mittwoch (6.4.) bis zu 150 Beschäftigte des Berliner „Tagesspiegel“ vor dem Verlagsgebäude am Askanischen Platz gegen die Blockadestrategie des Holtzbrinck-Konzerns bei den seit fast einem Jahr laufenden Tarifverhandlungen.

Von Günter Herkel

Ein Streiktag mit Wirkung: Am Donnerstag (7.4.) erschien der „Tagesspiegel“ mit einer auf 16 Seiten eingedampften Notausgabe (plus TV- und Veranstaltungskalender). Unter anderem fehlten der komplette Kultur- und Wirtschaftsteil. Aktuelle Sportergebnisse? Fehlanzeige. Leser, die – frei nach dem Blattmotto „Rerum Cognoscere Causas“ – den Grund für den inhaltlichen Schwund erfahren wollten, erhielten erst auf der vorletzten (Medien-)Seite einen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Arbeitskampf und inhaltlicher Ausdünnung ihrer Morgenlektüre.

Eine eintägige Arbeitsniederlegung von 0 bis 24 Uhr – das hat es beim Hauptstadtblatt seit den Wendezeiten nicht gegeben. Nötig wurde dieser Schritt aus Sicht der gemeinsamen Tarifkommission von ver.di und DJV, nachdem die Verlagsseite auch in der achten Verhandlungsrunde kein akzeptables Angebot vorgelegt hatte.

Seit Ende der 90er Jahre leben die – derzeit sind es 520 -  Beschäftigten des zum Stuttgarter Holtzbrinck-Konzerns gehörenden „Tagesspiegel“ weitgehend in tariflosem Zustand. Bereits vor dem letzten Treffen der Tarifparteien am 23. März hatten an die 130 Kolleg*innen aus Redaktion und Verlag im Rahmen einer „aktiven Mittagspause“ gegen die Hinhaltetaktik der Geschäftsführung protestiert.  Nach deren Vorstellung sollte bis zum Januar alles beim Alten bleiben. Anschließend sah das Verlegerangebot eine stufenweise, auf fünf Jahre gestreckte Angleichung an das Niveau des Flächentarifverträge für Redaktion und Verlag vor. Allerdings sollte jede dieser Anhebungsstufen an die Bedingung geknüpft sein, dass das Unternehmen im Jahr zuvor mindestens eine „schwarze Null“ geschrieben hat.

Ein für die Gewerkschaften nicht hinnehmbares Junktim. Sie fordern die Vereinbarung verbindlicher Gehaltssteigerungen für die kommenden Jahre im Rahmen einer Anwendung des Mantel- und Gehaltstarifvertrags für Redakteur*innen an Tageszeitungen. Des Weiteren wollen sie einen Tarifvertrag über die Altersversorgung für Redakteur*innen an Tageszeitungen sowie für die Verlagsangestellten einen Gehaltstarif mindestens analog zum Gehaltstarifvertrag für Angestellte an Tageszeitungen auf dem Niveau von Nordrhein-Westfalen.

Doch auch in der letzten Verhandlungsrunde kam keine Annäherung der Positionen zustande. Nach den jüngsten Vorstellungen von Holtzbrinck soll  es – abgesehen von einer Nullrunde im laufenden Kalenderjahr - im nächsten Jahr Gehaltserhöhungen nur für Redakteur*innen mit einem Bruttoverdienst bis maximal 3.939 Euro, für Verlagsangestellte nur bis zu einem Bruttoverdienst bis zu 3.230 Euro geben. Studierenden wird gleichzeitig ein Stundenlohn von 13,50 Euro in Aussicht gestellt. Anpassungen, die sogar ohne die Koppelung an die „schwarze Null“ gewährt werden sollen, aber – nur zum Einstieg in den Tarifvertrag, also einmalig. Weitere Anpassungen an den Tarifvertrag und Gehaltssteigerungen soll es nur geben, wenn der Tagesspiegel im Jahr zuvor schwarze Zahlen geschrieben hat.

Was die Streikenden davon halten, war auf einem Transparent auf der Kundgebung abzulesen: „Wenn die Geschäftsführung und G+V zur Steuervermeidung kreativ sind, bekommen wir keine Gehaltserhöhung.“ Oder, wie dju-Verhandlungsführer Jörg Reichel sagte: „Dass der Arbeitgeber mit der Bedingung schwarzer Zahlen das unternehmerische Risiko auf die Belegschaft übertragen will, ist für uns inakzeptabel.“

Eine Position, die in Grußworten auch von Renate Gensch, der dju-Vorsitzenden in Berlin-Brandenburg und Sylvia Vogt, Redakteurin und Mitglied der ver.di-Tarifkommission geteilt wurde. Solidarisch zeigte sich auch taz-Betriebsratsvorsitzender Wolf Vetter, der sich so großen Kampfgeist auch von der taz-Belegschaft wünschte. Am 4. April hatte es vor dem Berliner taz-Gebäude in der Friedrichstraße eine Protestaktion gegen die betriebsbedingte Kündigung von drei Mitarbeiter*innen der taz-Nord gegeben.

Die letzte IVW-Auflagenstatistik wies für den „Tagesspiegel“ für das 4. Quartal 2021 von Montag bis Sonntag eine Verkaufsauflage von 109.535 Exemplaren aus. Damit verteidigt das Blatt seine Pole Position auf dem hart umkämpften Zeitungsmarkt in der Hauptstadtregion. Wie die wirtschaftliche Situation des Verlags aussieht, ist indes nicht ganz klar. Im Herbst 2020 sah Verleger Dieter von Holtzbrinck anlässlich des 75. Geburtstags des „Tagesspiegel“ das Blatt „an erster Stelle, ganz vorne publizistisch, aber auch bei Auflage und Umsatz“. Branchenuntypisch büßt die Zeitung kaum Auflage ein, sondern stagniert auf beachtlichem Niveau.

Dagegen dürften die Umsätze gerade 2020 massiv steigen. Nicht nur wegen der klugen Digitalstrategie des Hauses, sondern auch wegen seiner aggressiven, geradezu inflationsfördernden Vertriebspreispolitik: Anfang 2022 stieg der Copypreis für die Werktagsausgabe um zehn Prozent auf 2,20 Euro, der Preis für die Sonntagausgabe gar um 40 Cent auf glatte drei Euro – eine Erhöhung um mehr als 15 Prozent.

Von diesem Kuchen will sich die Belegschaft auch ein Stück abschneiden. Mit dem eindrucksvollen Warnstreik dürfte sich der Druck auf den „Tagesspiegel“-Verlag weiter steigern. „Wir warten jetzt auf ein besseres Angebot“, sagt Jörg Reichel. Falls das ausbleibe, werde es weitere Arbeitskampfmaßnahmen geben. Reichel: „Dann gehen wir eben ein zweites und drittes Mal raus!“